Konzentrierte Lebensbilder aus der bleiernen Zeit
Mindestens hier, im deutschsprachigen Geschichtsraum, könnte es der Dokumentarfilm «Une jeunesse allemande» von Jean-Gabriel Périot schwer haben. Weil alles so bekannt erscheint: all die archivierten Bilder vom historischen Werden, kriminellen Sein und unheroischen Niedergang der Roten-Armee-Fraktion in bleierner Zeit. Alles längst Fernsehen geworden: die Tumulte beim Schah-Besuch in Westberlin (1967); der verblutende Student Benno Ohnesorg; die Schuhe des angeschossenen Rudi Dutschke; das brennende Springer-Verlagshaus; der magere Holger Meins in seinen Unterhosen nach der Verhaftung und der Meins mit seinen tiefen Augenhöhlen nach dem Hungertod; Ulrike Meinhof, die reflektierte Journalistin, in TV-Diskussionen und ihr verzerrtes Gesicht bei ihrer Festnahme, damals, als ihre Sprache nicht mehr Mittel der Reflexion war, sondern nur noch ideologische Axt. Dutschke am offenen Grab von Meins und das missverstandene «Holger, der Kampf geht weiter»; der entführte, entwürdigte Hanns Martin Schleyer, die toten Polizisten unter Planen und die befreiten Opfer der «Landshut»-Entführung; und Gudrun Ensslin, wie sie in ihrer Zelle hing, und die Leiche von Andreas Baader im Jahr 1977.
Historische Erzählung ist daraus geworden, routinierte «History», auch Geschichtsbrei manchmal; und ab und zu sentimentale Fiktion. Die filmischen Dokumente zeigen sozusagen Verschleisserscheinungen wegen fortlaufenden Gebrauchs. Dem Franzosen périot, der, wie er sagt, tausend Stunden Archivmaterial
gesichtet hat, mag das alles viel weniger verschlissen vorgekommen sein. Er kann auch nichts für unsere Ermüdung. Aber sie ist das objektive, wirkungsgeschichtliche Risiko, das er eingegangen ist. Und man muss zugeben, fast schon etwas überrascht: So ein wacher, unroutinierter Blick auf Bekanntes belebt seinerseits den träg gewordenen Wahrnehmungssinn eines Zuschauers, der es sich, beträchtlich überfüttert, mit der Geschichte der RAF bereits auf dem Kanapee bequem gemacht hat. Eigentümlich, wie neu in «Une jeunesse allemande» das Immer gleiche wirkt. Wie begreifbar in seinen blutigen Szenen und hässlichen Originalgeräuschen jener jahrelange Krieg wird (denn einen «Krieg» mit all seinen Kollateralschäden muss man es nennen), den die RAF gegen die Bundesrepublik Deutschland und der Staat gegen die RAF führten.
Das liegt an der kaltblütigen Kunst des Schnitts. An Périots klug kombinierenden Subjektivität, welche die Extreme vermeidet, das Pathos und die überhebliche Abgeklärtheit. Individualitäten schälen sich aus den Archiven, dieser Holger Meins etwa, der ehemalige Filmstudent, an dessen filmischen Experimenten sich ein Weg ablesen lässt: von der rebellischen Verspieltheit, die nur virtuell mit Bomben zündelte, bis zur Verwechslung von Mord mit Revolution und zu jenem elenden Verhungern, das er für revolutionäre Konsequenz hielt. Oder die Meinhof, die der RAF einen Namen und ein Gesicht gab und sich zu einer absurden Brutalität zwang, obwohl sie vielleicht früh den mörderischen Irrtum erkannte, an dem sie dann starb.
Das sind konzentrierte Lebensbilder. Entschuldigt wird nichts. Verstehen heisst nicht gleich Verzeihenwollen. Aber ein wenig Trauer um eine junge, kritische Vernunft, die zum blutigen, dogmatischen Wahnsinn wurde, die erlaubte sich Périot schon. Sie gehört ins Bild jener Jahre, in denen engagierten Moralisten die Moral, dem Rechtsstaat oft das Recht und der Sprache ihre Zivilisiertheit abhandenkamen.
Christoph Schneider
Tages-Anzeiger
19. September 2015